Ingo hätte mich beinahe über den Haufen gefahren. Ich überquerte in der Innenstadt gerade den Zebrastreifen in der verkehrsberuhigten Einkaufspassage, als mit lautem Motorgeheule mein alter Schulkollege um die Ecke geschossen kam. Wer in unserer Stadt etwas Motorisiertes vorzuzeigen hat, der nutzt seit jeher dieses kleine Viertel mit seinen Cafés und Kneipen zum Schaufahren. Sehen und gesehen werden. Und mittendrin war da nun auch mein früherer Sitznachbar aus der Penne.Ingo blickte mich ebenso erschrocken wie fasziniert aus seinem Coupé an: »Mann Du, das Ding geht aber ab. Da muss ich mich erst noch dran gewöhnen. Bock auf ne Spritztour?« Ja, hatte ich. Schließlich war ich neugierig darauf, zu erfahren, wie Ingo zu solch einem Schlitten gekommen war.Kaum saß ich, bretterte er auch schon los. Eine weitere Runde ums Viertel. Als er in der Kurve für einen Moment den Fuß vom Gas nahm, begann er zu erzählen: »Das ist ne lange Geschichte. Ich selbst hätte die Kohle ja nie gehabt, aber Louis ist total steil gegangen auf die Kiste, als wir alle zusammen im Autohaus waren. Da habe ich aus Spaß gesagt, dass er doch sein Sparbuch plündern solle.«Louis ist Ingos zehnjähriger Sohn. Ich grinste. »Nee, klar, Ingo. Hat Dein Sohn Dir also diesen heißen Flitzer von seiner Kohle gekauft?!«Mein Kollege schaute mich übertrieben empört an: »Bist du irre? Quatsch. So viel Geld hat der auch nicht gespart. Ich musste schon noch was dazutun.«Man sollte an dieser Stelle wohl erwähnen, dass die Kombination Ingo und Humor schon zu Schulzeiten zur Fahndung ausgeschrieben war. Zu Gesicht bekommen hatte sie nämlich nie jemand. Deshalb fragte ich mich nun für einen langen Moment, ob sich daran womöglich etwas geändert haben könnte. Doch ein intensiver Blick in Ingos Augen sagte mir: Nee. Der meinte das tatsächlich ernst!Ich fragte dennoch zur Sicherheit noch einmal nach: »Dein zehnjähriger Sohn hat Dir Geld für DEIN neues Auto gegeben?« Ingo drückte das Gaspedal bis zum Anschlag nach unten und ließ es sofort wieder schnacken. »Ja, klar. Er hat doch schließlich auch die meiste Kohle von uns allen. Aber wie gesagt, ist ne längere Geschichte. Nadja hat anfangs natürlich ihr Veto eingelegt und mich gefragt, ob ich einen an der Waffel hätte. Dann hat Louis aber so lange gequengelt, bis wir noch einmal ins Autohaus gefahren sind. Auf dem Rückweg sind wir in die Stadt gegangen, bisschen bummeln. Ja, nu, und da hat sich Nadja unsterblich in eine Tasche verliebt. Louis meinte, wenn wir beide uns das Auto kaufen dürften, würde er auch was zur Tasche dazugeben. Da ist Nadja dann irgendwie schwach geworden. Am nächsten Tag sind wir zur Bank und haben Louis’ Sparbuch aufgelöst und seinen Bausparvertrag gekündigt. Alles in allem 13.480 Euro. Und dann sind wir ab die Post erst in den Taschenladen und dann ins Autohaus.«Die kleine Spritztour mit Ingo hatte schlagartig meine Sinne für das Thema „Kinder und Geld“ geschärft. Als ich nach Hause kam, fragte ich Sophia, wie viel Kohle denn unsere beiden Racker so horteten? Ich hatte mich bis dato nie darum gekümmert. Sophia zog die Schulter hoch: »Da müsste ich mal einen Blick ins Depot werfen, den aktuellen Stand der Bausparverträge ckecken und die Konten einsehen. Du könntest in der Zeit schon einmal die Spardosen aufschrauben und den Inhalt zählen. Erschrick aber nicht. Ich habe da erst einmal die Scheine von ihren Geburtstagen reingesteckt. Müsste also ziemlich voll sein. Ich bin einfach noch nicht zur Bank gekommen.«Nach einem flüchtigen Blick in die zwei prall gefüllten Porzellan- Schweinchen schaute ich ins Internet. Und tatsächlich. Dort stand es. Unsere Kinder besitzen Milliarden. Die schwimmen förmlich im Geld. Warum war mir das vorher nicht schon einmal aufgefallen? Das änderte alles!Ich begann zu phantasieren. Die lang ersehnte Fahrt mit unserem Lieblingsklub ins Wintertrainingslager, die immer viel zu teuer war, schien plötzlich ganz nah. Der wandfüllende Flachbildfernseher und die Zapfanlage im Garten mit eingebauter Spezialkühlung – mit ein bisschen Geld vom Ersparten der Kinder würden plötzlich Träume wahr werden können. Jamie und Charlie wollten es doch schließlich auch.Mein Respekt gegenüber Ingo war ins Unermessliche gestiegen. Was für ein Genie. Der hatte es raus. So hatte der Hase zu laufen. Den ganzen Abend surfte ich im Internet herum und machte mir Notizen. Später ging ich mit dem Zollstock hinaus in den Garten und setzte an vier Ecken Pflöcke in die Erde. Hier würde der Pool entstehen – im nächsten Frühjahr. Dazwischen lag ja noch einmal Weihnachten. Das Festgeldkonto der Kinder würde sich also weiter füllen.Und dann kam alles doch ganz anders. Am nächsten Tag waren wir mit Freunden auf ein Getränk in einem Biergarten verabredet. Während wir draußen in der Sonne saßen, rannten die Kinder ins Innere – sie wollten mit dem Kicker spielen. Nach ein paar Minuten sauste Charlie an unseren Tisch: Sie bräuchten dringend einen Euro. Da den keiner hatte, gab ich Charlie einen Schein und sagte ihm, er solle sich den wechseln lassen. Der Fünfjährige nahm ihn und lief los. Nur eine Minute stand er wieder an unserem Tisch. Freudestrahlend. Er öffnete seine kleine Faust, blickte fasziniert auf die fünf Münzen in seiner Hand und rief: »Boah, ey, Alter. Guckt mal, was ich für das blöde Stück Papier bekommen habe. So viel Geld!«Noch am selben Abend zerriss ich meine Wunschliste. Vielleicht holen mich meine beiden Jungs ja eines Tages mit ihrem ersten eigenen Auto ab und wir fahren gemeinsam ins Wintertrainingslager unseres Lieblingsklubs. Für ne Runde Bier sollten meine Ersparnisse ganz sicher reichen!Ben Redelings