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Die Wackelzahnpubertät

„Maus, es sind für heute 30 Grad angesagt. Meinst Du nicht, dass die Reitstiefel vielleicht etwas zu warm sind?“ „Oooooh Mamaaaa, ich will die aber anziehen und mir ist nicht warm!“ „Aber wenn Du heute Mittag vom Kindergarten kommst, wird es superheiß sein. Komm, wir gucken mal nach deinen Sommerschuhen. Wir haben dir doch letzte Woche Neue geholt. Die wolltest Du unbedingt haben?!“ „Nein, die finde ich nicht mehr schön und ich WILL meine Reitstiefel anziehen. Außerdem bin ich schon bald sechs und kann das selber entscheiden! Doofe Mama, ich brauch Dich nicht!“ RUMMS! Nach einer endlosen, harten Diskussion folgen Wuttränen, Geschrei und alles endet mit einem lauten Türknall. Noch zehn Minuten vor diesem Wutausbruch saß das kleine Mädchen, das nach den Sommerferien eingeschult wird, auf dem Schoß ihrer Mama, um einfach nur bei ihr zu sein und sich feste in den Arm nehmen zu lassen.

 

Vielen Eltern, deren Kinder gerade dabei sind, sich zu Schulkindern zu entwickeln, kommt eine derartige Situation vermutlich bekannt vor. Die Kleinen werden scheinbar aus dem Nichts und ohne triftigen Grund total wütend oder fangen plötzlich bei jeder Gelegenheit an zu weinen und wirken irgendwie grenzenlos. Mal sind sie schon ganz groß und können alles alleine und dann sind sie auf einmal wieder ganz klein. Oft hört man Eltern dann Dinge sagen wie „Ich erkenne mein Kind gerade gar nicht wieder, wie soll das denn erst in der Pubertät werden?“
Diese intensive Entwicklungsphase, die so manche Eltern-Kind-Beziehung auf die Probe stellt, ist tatsächlich schon eine Pubertät. Denn zwischen der Autonomiephase, die den meisten Menschen wohl eher als „Trotzphase“ bekannt ist, und der bekannten und gefürchteten Pubertät, liegt sowohl für Eltern als auch für Kinder eine weitere herausfordernde Lebensphase: Die sogenannte „Wackelzahnpubertät“ (auch 6-Jahres-Krise oder Vorschulpubertät genannt). Und all diese Phasen haben etwas gemeinsam: Sie sind von inneren und äußeren Veränderungen geprägt, aber auch oft von zwischenmenschlichen Konflikten und emotionalen Ausbrüchen.

Körperliche Veränderungen

Gerade im Verlauf des sechsten und siebten Lebensjahres verändert sich der Körper der Kinder. Der rundliche Kleinkindkörper nimmt plötzlich Gestalt an und sie überspringen gefühlt über Nacht ganze Kleider- und Schuhgrößen. Ihr Arme und Beine werden länger, die kleinen Patschehändchen gehen verloren, die Taille bildet sich und das kleine Speckbäuchlein wird flacher. Die Körperwahrnehmung der Kinder ist plötzlich eine ganz andere und die körperlichen Verhältnisse müssen ständig neu koordiniert werden. Nicht selten fallen die Kleinen in dieser Phase häufiger hin, stolpern leichter oder hängen irgendwie auf dem Stuhl statt wie zuvor „ordentlich“ zu sitzen. Auch der Bewegungsdrang ist enorm groß in dieser Zeit. Wenn sich aber die Proportionen während dieser Entwicklungsphase so schnell und so drastisch ändern, sind das alles irgendwie doch logische Konsequenzen. Denn diese Veränderungen mitzumachen, ist rein körperlich schon eine wirkliche große Herausforderung.

Zahnwechsel lässt auch die Seele wackeln

Neben der äußerlichen Veränderung stellen Eltern in dieser Zeit auch eine extreme innere Veränderung ihrer Sprösslinge fest. Es kommen Verhaltensweisen zum Vorschein, die Eltern bisher so von ihren Kindern nicht kannten. Zu Wutausbrüchen aufgrund von vermeintlichen Lappalien kommen häufig auch noch weitere emotionale Veränderungen dazu: Ein lauteres Schreien, wenn die Kids sich wehtun, ein Weinen aus Gründen, die für Eltern irgendwie nicht wirklich verständlich sind. Viele Eltern wissen während dieser Zeit einfach nicht, was mit ihren Kindern los ist. Beim Austausch mit anderen Erwachsenen, stellt man zum Glück fest, dass man mit dieser Situation nicht alleine ist. Denn mit dem Zahnwechsel, den nun mal jedes Kind durchlebt, geraten nicht nur die Zähne sondern auch die Seele ins Schwanken. In ihrem Buch „Wackeln die Zähne – wackelt die Seele“ erklären Monika Kiel-Hinrichsen (Waldorfpädagogin) und Renate Kviske(Zahnärztin) Eltern und Erziehern, was mit den Kindern während des Zahnwechsels passiert und geben Ratschläge, Spielanleitungen und praktische Tipps, um diesen Lebensabschnitt zu erleichtern.
Der Titel des Buchs „Wackeln die Zähne – wackelt die Seele“ beschreibt die Phase, in der sich die Kinder befinden, wirklich sehr gut. Vielen Eltern, die bisher noch nichts von der „Wackelzahnpubertät“ gehört haben, wird bewusst, dass mit dem Wackeln der Zähne ihrer Vorschulkinder auch das Gemüt gleichsam plötzlich zu wackeln begonnen hat.
Was passiert beim Zahnwechsel in diesem Alter? Um das sechste Lebensjahr beginnt normalerweise der Zahnwechsel mit dem Durchbruch des ersten bleibenden Zahnes. Es handelt sich um den ersten Molaren (Backenzahn), der auch als Sechsjahr-Molar bezeichnet wird. Da er hinter dem letzten Milchzahn herauskommt, ohne dass dabei ein Milchzahn ausfällt, wird sein Erscheinen oft nicht bemerkt. Dann werden die Milchschneidezähne locker und die bleibenden Schneidezähne erscheinen. Oft fallen die Milchzähne zunächst nicht aus, obwohl die bleibenden Zähne knapp dahinter schon durchgebrochen sind. Durch den Zungendruck auf die neuen Zähne kommt es aber normalerweise innerhalb weniger Monate zum Ausfall der Milchschneidezähne. Da die bleibenden Zähne für den ausgewachsenen Schädel proportioniert sind, wirken sie zunächst irgendwie zu groß. Aber während die Milchzähne noch bei jedem Kind recht ähnlich aussehen, sind die bleibenden Zähne bei jedem Kind individuell in Form, Farbe und Zahnstellung – genauso individuell wie der Charakter, der sich in diesem Lebensabschnitt herausbildet. Eins sollten wir uns an dieser Stelle auch mal deutlich machen: Wenn wir Erwachsenen bedenken, wie fertig uns Zahnschmerzen machen und dann sehen, was bei den Kindern beim Zahnwechsel im Gebiss vor sich geht, kann die ein oder andere Verhaltensweise vielleicht besser verstanden werden.

„Ich weiß doch selber nicht, was los ist!“

In der Zeit, in der sich ein Kind vom Kindergarten- zum Schulkind entwickelt, finden also Veränderungen am laufenden Band statt. Kein Wunder also, dass sie oftmals einfach überfordert sind mit den ganzen neuen Umständen. Mein sechsjähriges Patenkind sagte neulich nach einem ausgiebigen Schreikrampf, der dann in ein bitterliches Weinen überging zu mir: „Ich weiß doch selber nicht, was los ist!“ Diese Aussage zeigt doch, wie schwierig es für die Kinder ist, mit den ganzen Veränderungen umzugehen und dass sie einfach nicht wissen, wohin mit den ganzen Emotionen. Auf der einen Seite machen diese Veränderungen den Kindern Angst, aber sie merken auch, dass sie unabhängiger werden. Plötzlich können sie mehr, dürfen mehr und wollen auch mehr. Das macht sie mutiger, eigenständiger und auch fordernder. Viele Kinder diskutieren in diesem Alter unwahrscheinlich gerne und stellen gewohnte Regelungen und Abmachungen in Frage. Für Kinder ist das unglaublich wichtig, um den nächsten Lebensabschnitt (Schule) zu meistern und sich etwas abzunabeln. Das Familienleben kann in der „Wackelzahnpubertät“ allerdings ziemlich auf den Kopf gestellt werden und für Eltern auch schon etwas anstrengend sein.
Und auch, wenn gerade diese unvorhersehbaren Wutausbrüche Eltern ab und zu selbst zur Verzweiflung bringen: Eltern dürfen diese emotionalen Ausbrüche nicht persönlich nehmen (auch, wenn es schwer fällt)! Denn sie sind nicht gegen andere gerichtet – Kinder tun damit etwas für sich! Was sie in diesen Situationen brauchen, ist Empathie, Zeit für ihre Fragen und Ängste, Geduld und natürlich Liebe!
Und auch, wenn es natürlich kein Patentrezept zum Umgang mit der „Wackelzahnpubertät“ gibt, sollten Sie bedenken: Diese Phase ihres Kindes ist normal und sowohl für Eltern als auch für Kinder eine gute Übung.

Julia Schröder

Buchtipp:

Wackeln die Zähne – wackelt die Seele
Der Zahnwechsel. Ein Handbuch für Eltern und Erziehende

Nur wenige Eltern rechnen damit, dass die Zeit des Zahnwechsels eine harte Probe für die Beziehung zu ihrem Kind werden kann. Das Buch gibt hilfreiche Tipps, wie man diese Zeit am besten meistern kann.

Monika Kiel-Hinrichsen, Renate Kviske | Verlag Urachhaus | ISBN 978-3-8251-7297-8 | 12,90 €

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