Ein käuflicher Babysitter
Letztens hatten wir Besuch von meinem Onkel und meiner Tante. Sie kamen allerdings nicht allein, sondern mit Lea. Lea ist anderthalb Jahre alt, ist ausgestattet mit der Energie von zehn Duracell-Häschen und brabbelt bereits wie Lothar Matthäus: ohne Luft zu holen und in einer Tour. Allerdings versteht man sie noch schlechter als besagten Fußballer, der sich mittlerweile als Kommentator in der Bundesliga versucht.
Tja, da stand ich nun etwas verloren mit meiner Schwester Lotta und diesem zweijährigen Kauderwelsch brabbelnden Powerkrümel. Denn selbstredend sollte ich mich um die beiden kümmern, während sich die Erwachsenen bei Kaffee, Tee und Erdbeertorte in Ruhe unterhalten wollten. Ich sei ja schon groß und vernünftig und könne mich doch nun wirklich mal einen Nachmittag lang mit den beiden Mädchen beschäftigen.
Ich fand es mehr als anmaßend und unverschämt, mit einer solchen Aufgabe belastet zu werden. Aber nachdem ich mich lange genug empört, die Augen verdreht und betont hatte, dass ich wahrlich Besseres zu tun hätte, als meine kostbare Freizeit als Babysitter an zwei kieksende Dreikäsehochs zu vergeuden, wurde mir mein so verantwortungsvoller Auftrag mit der Aussicht auf ein neues Trikot meines Lieblingsvereins versüßt. Als ich mich immer noch ein wenig zierte und zauderte, legte mein Onkel als Bonbon noch die Beflockung des Shirts mit meinem Namen obendrauf.
In meiner Fantasie sah ich mich bereits beim Fußballtraining mit dem strahlend neuen Dress auflaufen, auf dem in großen, goldenen Lettern „Kalle-Messi“ leuchtete. Den neidischen Blicken meiner Vereinskollegen begegnete ich mit einem dezent arroganten „Wer hat der hat“-Gesichtsausdruck. Und mit der Kraft des vielfach dekorierten Weltfußballers und Weltmeisters auf dem Rücken umspielte ich meine Gegenspieler wie von Zauberhand – oder besser wie von Zauberfuß – und ließ sie dastehen wie tumbe, unbewegliche Sandsäcke. Nun ja, was soll ich sagen: Dieser Art von Bestechung konnte ich einfach nicht widerstehen. „So klein und schon so käuflich“, grinste mein Vater und prophezeite mir weniger eine Karriere als kommender Fußballgott, denn als windiger Geschäftsmann, über den er einst sagen würde: „Von mir hat er das nicht!“
Meine Fußballträume wichen dann alsbald auch der harten Realität, die für mich einen Nachmittag mit Herausforderungen bereithielt, die eines Starkickers eher unwürdig waren. Da nutzte es auch nichts, dass ich mir einredete, für solche Gelegenheiten als Erwachsener eine Nanny im Hause zu haben, die sich kümmern würde.
Die Nanny hieß an diesem Nachmittag Kalle und machte zunächst mal Bekanntschaft mit der sensiblen Phase der Sprachentwicklung eines 18 Monate alten Kleinkindes mitsamt dessen beginnender „Autonomiephase“. Während Lotta nicht müde wurde, zu betonen, wie süüüüüß Lea sei, verlor ich mich in den zumeist erfolglosen Versuchen, dieses Kleinkind und dessen Wünsche zu verstehen.
Durchschnittlich 25 Wörter, habe ich mir später erklären lassen, beherrschen Kinder in dieser Phase – welch eine Wortschatzexplosion! Dass dazu Wörter gehören, die anmuten, als würden sie Parsel sprechen und mit Schlangen kommunizieren können, davon war nicht die Rede. Gut, das Wort „Teddy“ hatte selbst ich verstanden. Aber was mir Lea mit diesem Ausruf frühkindlicher Prägung mitteilen wollte, überstieg dann erneut meine Sprachkompetenz. Mein Unverständnis hatte einen Wutausbruch zur Folge, dessen Zornesröte Leas Kopf erglühen ließ wie eine abgeschossene Leuchtpatrone, und ihre spitzen und hohen Schreie erreichten eine Frequenz, bei der ich mich ernsthaft um unsere Fenster sorgte.
„Kalle, sie sucht ihren Teddy“, gab mir Lotta wie selbstverständlich zu verstehen. Kaum hatten wir ihn gefunden, schallte erneut ein lautes „Teddy!“ durchs Zimmer. „Kalle, sie möchte ihn haben. Du musst ihr ihn auch sofort geben“, klärte Lotta mich ein zweites Mal auf. Mein Erstaunen darüber, dass meine kleine Schwester die Babysprache anscheinend perfekt beherrschte, wich der Erkenntnis, dass der Tonfall die Musik machte. Es gab also den Teddy-Ruf mit Fragezeichen, übersetzt „Wo ist er?“ und den mit einem Ausrufezeichen, was „Ich will ihn haben!“ bedeutete.
Lea gab mir an diesem Nachmittag noch reichlich Gelegenheit, mich in ihre Sprach- und Gefühlswelt einzufinden, was mir mit meiner Dolmetscherin Lotta minütlich besser gelang. Am Ende des Tages hatte ich es sogar geschafft, Lea einige Male ein befriedigendes Lächeln aufs Gesicht zu zaubern, was Lotta zu einem klaren Urteil kommen ließ: „Sie mag dich!“ „… und ich mag mein neues Trikot“, dachte ich und grinste.
Von Andrea Schröder