Kalle und die Bärchenwurst
Mütter sind ja wirklich etwas Wunderbares! Auf sie kann man sich eigentlich immer verlassen. Weil sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für alle anderen Familienmitglieder sorgen und mitdenken. Manchmal allerdings passiert es, dass sie mit ihren Ideen und ihrer Fürsorge ein ganz klein wenig neben der Spur liegen. So wie an diesem einen Tag, an dem wir uns in unserer Klasse gemeinsam zum Pausenfrühstück trafen und dabei Besuch von einem Ernährungsberater bekamen. Er wollte uns erklären, was alles zu einem rundum gesunden Frühstück gehört, und wir durften ihm und der Klasse offenbaren, was wir Leckeres in unserer Brotdose mitgebracht hatten. Ich fühlte mich bestens gerüstet – wie gesagt, auf meine Mutter ist Verlass.
Und so war die Vorfreude groß. Denn nachdem ich der Wichtigkeit dieses Anlasses bereits Tage vorher eindringlich Ausdruck verliehen und einleuchtend erklärte hatte, dass meine Plastikdose aus ökologischen und hygienischen Gründen alles andere als vorzeigbar und nicht mehr zeitgemäß sei und sie unbedingt ausgetauscht werden müsse, hatte auch meine Mutter ein Einsehen. Also ab in die Stadt, um eine neue Butterbrotdose zu kaufen. Schließlich muss nicht nur der Inhalt, sondern auch die Verpackung stimmen.
Mit der neuen Lunchbox würde ich punkten, das war gewiss! Sie war aus Edelstahl und damit „langlebig und voll recyclebar“ wie uns die Verkäuferin versicherte. Verschlossen wurde die Dose mit einem Deckel aus echtem Bambusholz, der gleichzeitig als Essbrettchen Verwendung fand. Mehr Nachhaltigkeit geht kaum. Dass die Verkäuferin noch flugs mitsamt meiner neuen Box verschwand, sorgte mich zunächst nicht. Wahrscheinlich würde sie das Prachtstück noch gebührend verpacken. Erst als ich Geräusche aus dem Hinterzimmer vernahm, die mich doch stark an den Zahnarzt erinnerten, dessen Praxis wir unlängst besucht hatten, wurde ich unruhig. Bohrgeräusche und eine Brotdose – das irritierte mich. Was war da los? Die Auflösung folgte nach wenigen Minuten und ließ mich vollends strahlen: In formvollendeten Lettern zierte die Gravur meines Namens den Bambusholzdeckel: KALLE.
Keine Frage: Es war die mit Abstand schönste Brotdose, die ich jemals gesehen hatte. Meine Mutter murmelte noch etwas von „hat aber auch einen stolzen Preis“. Aber was zählt schnöder Mammon, wenn man mit Nachhaltigkeit punkten kann und sich anschickt, der Umwelt etwas Gutes zu tun. Mit der ultimativen Lunchbox im Rucksack machte ich mich an besagtem Morgen also frohgelaunt auf den Weg in die Schule und konnte die Frühstückspause kaum erwarten. An dem von meiner Mutter zusammengestellten Frühstück hegte ich keine Zweifel.
Mit einer ausgewogenen und gesunden Mahlzeit in den Tag zu starten, ist ihr wichtig. Und klar, ich hätte durchaus gerne mal den gesunden Schokoriegel mit viel Milch als kleines Frühstücksschmankerl, doch dass der so gesund, wie die Werbung es verspricht, gar nicht ist, davon hatte mich spätestens der erwähnte Zahnarzt mit einem Film überzeugt, der eindrucksvoll zeigte, was zu viel Zucker mit Zähnen anrichtet. Also freue ich mich seitdem über Obst und Trockenfrüchte als Schokoladenalternative. Einen kleingeschnittenen Apfel fand ich dann auch in einem der Fächer meiner Lunchbox, die wie erhofft, auf reichlich Bewunderung stieß.
Der Inhalt stand dem in Nichts nach und mutete vorbildlich an: Neben dem Apfel, der mit einem Klecks Joghurt verziert war, gehörten Nüsse, ein paar Möhrenschnitze und ein Körnerbrot zu meinem auch farblich fröhlich zusammengestellten Frühstück. Was sich dann aber zwischen den beiden Brotscheiben als Belag verbarg, trieb mir die Schamesröte ins Gesicht: Flankiert von zwei Salatblättern lag eine Scheibe Mortadella in Bärchenform auf dem Brot – mit Gesicht und Tatzen! Was in aller Welt hatte sich meine Mutter dabei gedacht? Ich bin sieben Jahre alt und ein gestandener Grundschüler! Geht’s noch? Außerdem will ich Feuerwehrmann, Kranfahrer oder zumindest Astronaut werden – wie bitte passt da die Bärchenwurst ins Bild?
Mein Entsetzen konnte ich kaum verbergen. Ich stammelte irgendetwas von „da muss meine Mutter die Brotdosen von mir und meiner vierjährigen Schwester verwechselt haben.“ Überzeugend klang das leider nicht. Es war mit Abstand die peinlichste Situation in meiner Klasse, seit Mats im Lehrschwimmbecken mit seiner Motiv-Bermuda am Beckenrand stand, auf der pinke Flamingos prangten. Seine Karriere als Unterwäschemodell hatte er damit ebenso verwirkt wie den Respekt seiner Mitschüler. Allerdings fanden ihn die Mädels plötzlich alle niedlich – aber welcher Junge möchte schon mit dem Attribut „niedlich“ versehen werden? Ich keinesfalls. Ich mag weder drollige Badehosen noch putzige Wurst mit Bärchen und schlich resigniert als menschgewordener Vorwurf an meine Mutter nach Hause.
Dort traf mein Entsetzen eher auf Unverständnis. Was denn der feine Herr zu speisen gedenkt, fragte sie mich. Warum beschlich mich das Gefühl, dass sie mich nicht wirklich ernst nahm? Zum Glück fiel mir eine Weisheit meiner Oma ein, die gesunde Ernährung auf eine sehr einfache Formel brachte: „Morgens essen wie ein Kaiser, mittags wie ein König und abends wie ein Bettelmann“. Und weil Omas weise sind und ihr Rat stets befolgt wird, war mein Wunsch klar: Fortan möchte ich frühstücken wie ein Kaiser. Seitdem garniert meine Mutter meine Brote stets mit einem kleinen Krönchen…