Die motorische Entwicklung eines Kindes im ersten Lebensjahr gleicht einem Wunder. Wir sprechen von angeborenen Bewegungsmustern, die sich unabhängig von jeglichem Trainings- oder Spielangebot entwickeln und das Kind bis zu seinem ersten Geburtstag in den aufrechten Gang bringen. Eine individuelle Prägung, ob das Zirkuskind besonders gut balancieren kann oder das Indianerkind besonders gut die Fähigkeiten des Jagens entwickeln wird, entscheidet sich nach den ersten 12 Monaten des Lebens. Bis zu diesem Zeitpunkt entwickeln sich alle Kinder motorisch auf die gleiche Weise. Denkbar ist eine gegenseitige Beeinflussung von Genen und Umwelteinflüssen.
Um bei einem Säugling entscheiden zu können, ob die motorische Entwicklung in einem normalen Rahmen verläuft, sind definierte Meilensteine der motorischen Entwicklung im ersten Lebensjahr von Bedeutung. Grundsätzlich wird sich jedes Kind bewegen wollen, um die Welt jeden Tag neu entdecken zu können.
Ab dem ersten Lebenstag kann das Neugeborene über alle ihm zur Verfügung stehenden Sinne (riechen, schmecken, tasten, hören, sehen) mit seiner Umwelt Kontakt aufnehmen. Motorisch sehen wir sowohl in Rückenlage als auch in Bauchlage Arme und Beine nah am Rumpf gebeugt und auch im Wechsel gestreckt. Einige Neugeborene bevorzugen in den ersten 4 Wochen die Kopfdrehung mehr zu einer Seite, was aber nicht den Irrtum entstehen lassen darf, dass eine ausschließlich einseitige Lage bzw. Drehung des Kopfes normal sei. Bereits das Neugeborene orientiert sich über seine Sinne nach rechts und nach links. Frühkindliche Reflexe beeinflussen in den ersten 6-8 Lebenswochen die Bewegungsentwicklung. Babys werden von Tag zu Tag aktiver, sind neugierig und an ihrer Umwelt interessiert. Durch immer längerfristige Blickfixierungen der Säuglinge stellen sich in beiden Körperlagen (Rücken und Bauch) veränderte Körperhaltungen ein. Der Säugling stützt sich bereits im Alter von 3 Monaten in Bauchlage auf beide Ellenbogen, kann den Kopf deutlich von der Unterlage abheben und erreicht dadurch ein vergrößertes Blickfeld auf seine Umgebung. In Rückenlage wird der Kopf eigenständig in der Mitte gehalten und der Kommunikation „Face to Face“ steht nichts mehr im Wege. Dabei werden spielerisch beide Beine in
der Luft getragen und bei genauer Beobachtung können wir ein wunderschönes Fuß-Fuß-Spiel erkennen. Beide Hände spielen vor dem Körper miteinander und werden bei Bedarf in den Mund genommen. Insgesamt werden die Bewegungen deutlich zielgerichteter.
Mit ca. 4,5 Monaten beobachten wir, dass der Säugling aus der Rückenlage heraus sich mehr und mehr für Gegenstände aus seinem näherem Umfeld interessiert, z.B. ein Spielzeug oder eine Zeitschrift, die neben seinem Körper liegen. Er versucht, durch eine beginnende Drehung des Körpers auf eine Seite (rechts und links) den Gegenstand zu erreichen. In dieser Zeit beginnt die feinmotorische Entwicklung der Hände mit dem Beginn des Greifens. Zeitgleich nimmt der Säugling in Bauchlage einen Arm und hebt ihn von der Unterlage und benutzt ihn ebenfalls zum Greifen nach einem Gegenstand. Dadurch wird auch in dieser Lage sein Radius und die Möglichkeit, begehrte Gegenstände zu erreichen, vergrößert. Der Motor all dieser Bewegungsanstrengungen ist die Begierde, das „Habenwollen“. Nichts ist uninteressant, alles ist neu und spannend. Das Kind erlebt tagtäglich neue, reizvolle Dinge, die es betasten, erleben, schmecken und kennen lernen möchte. Hindern wir sie nicht daran!
Bereits mit 6 Monaten wollen Kinder hoch hinaus. In der Bauchlage stützen sie sich auf beidseits geöffnete Hände mit gestreckten Armen und der Oberkörper hebt sich von der Unterlage ab. Stolz präsentieren sie sich der Umwelt. Die Rückenlage ist nur noch Ausgangspunkt für das Drehen von der Rückenlage in die Bauchlage. Und damit entdecken sie erstmalig eine Fortbewegung von A nach B. Das Kind kann seine Körperlage im Raum selber bestimmen und wählt die, welche für seine Unternehmungen nun die beste ist. Bald fängt das Baby an, zu rollen und zu robben. Voraussetzung für diese motorische Weiterentwicklung des Kindes ist die Möglichkeit zur freien und sicheren Bewegungserfahrung – die Lage auf dem Boden bietet diese. Weder im Bettchen noch im Laufstall ist der Reiz so groß, sich in jedem Fall (fort-) bewegen zu wollen.
Nun entwickelt sich das Kind motorisch rasend schnell. Bereits mit 7 Monaten kommt es in den Vierfüßlerstand, kann mit ca. 8 – 10 Monaten krabbeln, zieht sich an Gegenständen hoch und macht um den 1. Geburtstag herum seine ersten freien Schritte. Die Neugier auf die Welt hat das Kind in die Vertikale gebracht, denn der Mensch ist aufgrund seiner genetischen Anlagen ein Lebewesen, das auf zwei Beinen durchs Leben geht. Die gereiften motorischen Fähigkeiten innerhalb des 1. Lebensjahres nutzt der Mensch sein ganzes Leben. Daher ist keine Eile geboten, wenn ein Kind innerhalb der angegebenen Zeiten mit plus oder minus 6 Wochen die motorischen Meilensteine erreicht. Die Beurteilung, ob eine motorische Verzögerung vorliegt oder nicht, wird nicht alleine an den Zeitangaben festgemacht. Auch wie ein Kind sich bewegt ist entscheidend. Kinder haben ihren eigenen Rhythmus. Eltern sollten dennoch sensibel sein und auf ihr Bauchgefühl hören. Bei Unsicherheiten über die motorische Entwicklung stehen Kinderärzte, Physiotherapeuten und auch Hebammen als Ansprechpartner zur Verfügung. Beim Erlangen von weiteren motorischen Fähigkeiten erleben wir parallel die teilweise sprunghafte Entwicklung der Kommunikation mittels unserer Sprache. Auch sie ist ein guter Marker für die normale geistige Entwicklung des Menschen, der als Sozialwesen an der Gruppe Anteil nehmen möchte. Die Möglichkeiten des Kindes, sich durch Mimik, Gestik und „Sprache“ auszudrücken, nehmen rasch zu. In dieser Ausdrucksmöglichkeit liegt das Ur-Bedürfnis des Menschen, Teil der Gruppe der Menschen
sein zu wollen und dieser Gruppe, zunächst seinen Eltern, seine Bedürfnislage mitteilen zu können. Emmi Pikler hat ein Buch mit dem Titel „Lasst mir Zeit“ herausgegeben. Wir würden ergänzen: „Gebt den Kindern den Raum, den sie benötigen, um sich bewegen und entwickeln zu können.“
Literaturhinweise:
Prof. Theodor Hellbrügge: Die ersten 365 Tage im Leben eines Kindes
Vaclav Vojta/Edith Schweizer: Die Entdeckung der idealen Motorik
Text: Bettina Menzen und Iris von der Lippe (beide sind Physiotherapeuten und Vojta-Lehrtherapeuten)