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Reittherapie bei Kindern

Bildnachweis: Ines Walter

Das Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde. Warum eine Reittherapie Kinder mit und ohne Behinderungen zu starken und selbstbewussten Menschen machen kann.
„Nicht reden!“, sagt Daniel bestimmt, holt noch einmal tief Luft und klettert dann eigenständig und konzentriert die drei Stufen der Trittleiter hoch. Mit einem geübten Griff zum Therapiegurt schwingt er sich auf Connors Rücken und lächelt stolz, als er sicher auf dem schwarz-weiß gescheckten Pony sitzt. Für Daniel keine leichte Aufgabe, denn der Siebzehnjährige kam mit dem Down-Syndrom auf die Welt. Seit neun Jahren kommt er einmal in der Woche für eine Stunde zur Reittherapie auf den Hof Böckmann in Witten. „Es ist ein Riesenerfolg, dass Daniel alleine über die Leiter aufsteigt“, sagt Deborah Walter (36), seine Reittherapeutin. „Durch seine Behinderung hat er Schwierigkeiten in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen; er nimmt den Boden unter sich verschwommen war, und neue, unbekannte Situationen verunsichern ihn stark. Gleichbleibende Abläufe sind bei Daniel daher wichtig zur Konzentrationsförderung“, erklärt die Reittherapeutin. Seit er etwa acht Jahre alt ist, kennen sich die beiden durch die Reittherapie, mit deren Hilfe Daniel wichtige Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht hat, wie auch seine Pflegemutter sagt: „Bei der Reittherapie werden auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zugeschnittene Zielsetzungen entwickelt, und ich bin der sicheren Überzeugung, dass diese Form der Therapie deshalb funktioniert, weil sie ganzheitlich wirkt – also den Körper, den Geist und die Seele der Kinder anspricht.“ Das Leben auf dem Hof, Gespräche sowie der Umgang und die Beziehungsarbeit mit den Pferden könnten bei den Kindern viele Ängste abbauen. „Menschen mit Down Syndrom wirken auf uns oft dickköpfig und es brauchte Geduld und Kontinuität, bis zwischen Daniel, Deborah und den Tieren eine Vertrauensbasis da war.“ Um Daniels Verunsicherungen abzubauen, hat Deborah Walter am Anfang auch ihre zwei Esel in die Therapie mit eingebunden. „Der Esel war genauso dickköpfig wie Daniel. Dass das Tier nur dann auf ihn hört, wenn er selbst bestimmte Regeln einhält, wurde ihm über Monate langsam bewusst. Dass der Esel stur bleibt, zum Beispiel, wenn Daniel die Leine nicht locker hält, muss er erstmal begreifen und sich dann darauf einlassen und schließlich verstehen, das Gelernte auch auf seine Situation zu übertragen“, erinnert sich Daniels Pflegemutter.
Seit 24 Jahren kümmert sich die 52-Jährige um körperlich und/oder geistig behinderte Pflegekinder. Aktuell gehen von ihren neun Pflegekindern fünf zur Reittherapie, weil diese Form der Therapie sich bewährt hat: „Die Kinder befinden sich hier in keiner künstlich herbeigeführten sondern völlig natürlichen Situation und fühlen sich deswegen sehr wohl. Durch den Umgang mit den Tieren erlernen sie Dinge wie Selbstsicherheit, die sie auf die große, weite Welt übertragen können. Natürlich werden sie durch die Therapie nicht geheilt, aber ihre Symptomatiken werden besser.“
Warum das so ist, weiß Deborah Walter, die seit zehn Jahren – neben ihrer Tätigkeit als Heilerziehungspflegerin – als Reittherapeutin im Fachbereich „Heilpädagogisches Reiten“ und „Arbeiten mit dem Pferd“ arbeitet. „Der Umgang mit den Tieren spricht zahlreiche Sinne an: Geschult werden die vestibüläre Wahrnehmung, also der Gleichgewichtssinn, der kinästhetische Sinn, der Kraft- und Stellungssinn und der taktile Sinn, also das Spüren und Fühlen. Durch das Arbeiten an diesen Sinnen wird das Fundament für die weitere Entwicklung der Kinder aufgebaut.“ Neben der Wahrnehmungs- und Feinmotorik-Förderung kann der Umgang mit dem Pferd aber vor allem im sozial-emotionalen Bereich und bei Entwicklungsstörungen vieles bewirken: „Ein traumatisiertes Kind, das zum Beispiel seine Eltern verloren oder Gewalt erlebt hat, verweigert sich oftmals. Zu den Tieren entwickeln diese Kinder nach und nach eine Bindung und finden Vertrauen. So kann eine Brücke gebaut werden mit dem Ziel, dass diese Kinder sich für eine anschließende Psychotherapie öffnen.“ Gerade in solchen Fällen sei es aber wichtig, dass Reittherapeuten ihre Grenzen kennten; daher sei der ständige Austausch zwischen den Reit- und anderen Therapeuten – und natürlich mit den Eltern – der jungen Patienten von zentraler Bedeutung. Deborah Walters Ziel ist es, „durch die Reittherapie für Kinder und Eltern ein System aufzubauen, in dem sie unabhängig von der jeweiligen Diagnose miteinander leben können.“ Sie möchte den Familien vermitteln, dass es nicht darauf ankäme „gegen die Fehler der Kinder zu arbeiten“, sondern die Kinder so anzunehmen, wie sie sind und Gründe oder Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen finden.
Allerdings sei eine fundierte Ausbildung von Mensch und Tier ebenso maßgeblich für den Erfolg einer Therapie. Und da gebe es erhebliche Qualitätsunterschiede. „Leider fehlt es noch an der staatlichen Anerkennung des Berufs. Und dadurch, dass der Beruf des Reittherapeuten nicht geschützt ist, gibt es auch viele Träger, die beispielsweise in Crashkursen solch eine Ausbildung anbieten und es fehlt hinterher an fachlichem Wissen. Dass auch unser Ruf darunter leidet, versteht sich von selbst.“ Interessierte sollten sich im Vorfeld deswegen über den Therapeuten hinsichtlich seiner Aus- und Weiterbildung, seines Schwerpunktes und der Ausbildung der Pferde gründlich informieren. Denn auch die Tiere müssen speziell geschult sein und ein besonderes Feingefühl für die Besonderheiten der Kinder haben.
Die sieben Ponys von Deborah Walter wirken allesamt ausgeglichen und zufrieden, was sie auf die so genannte Offenstallhaltung zurückführt. Die Tiere dürfen sich Tag und Nacht frei bewegen und lernen durch die Herdenhaltung beständig voneinander. Wobei jedes Pony seine eigenen Stärken hat: „Connor ist manchmal zu ungeduldig im Umgang mit kleinen Kindern, Trold hingegen liebt Kinder und Action und hat den Schalk im Nacken, genauso wie Lenni, der immer eine Aufgabe braucht und ein herzensgutes Pony ist.“ Durch den partnerschaftlichen Umgang miteinander lernen die Therapiekinder, „die Pferde nicht nur aufs Reiten zu reduzieren“, lernen die unterschiedlichen Charaktere der Ponys kennen und erfahren so etwas über deren und ihre eigenen Stärken und Schwächen.
So wie Michelle, die seit ihrer Geburt unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS) leidet. Die Alkoholsucht ihrer leiblichen Mutter hat bei der heute Zehnjährigen zu Schädigungen des zentralen Nervensystems geführt, weswegen Deborah Walter und ihre Ponys ihre Entwicklung schon seit vielen Jahren begleiten: „Als ich Michelle kennenlernte, hatte sie unter anderem eine niedrige Frustrationstoleranz und war sehr distanzlos. Die respektvolle und konsequente Arbeit mit den Ponys hat ihr Selbstwertgefühl gegeben. Sie musste ihr eigenes Verhalten reflektieren und hat dadurch neue Handlungsschritte erfahren. Heute liebt sie es, den Tieren etwas beizubringen, denn sie hat es gelernt, sich und den Tieren zu vertrauen.“ Für die Reittherapeutin eine schöne Bestätigung ihrer Arbeit: „Indem man herausfindet, woran es den Kindern fehlt und sie ihre ohne Leistungsstress ihre eigenen Fähigkeiten entdecken, damit es ihnen im Alltag besser geht, tritt bei ihnen und den Familien eine Entspannung ein. Und dann ist eine Reittherapie für mich erfolgreich.“
Helene Seidenstücker

Vereine, die umfangreiche Ausbildungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten anbieten sind unter anderem: „Förderkreis Therapeutisches Reiten e.V.“ (www.foerderkreis-therapeutisches-reiten.de) und das „Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V.“ (www.dkthr.de).

Kosten: Eine Reittherapie kostet i.d.R. zwischen 45 und 70 Euro pro Stunde und muss privat getragen werden. Bei Pflegekindern übernehmen Stiftungen oder das Jugendamt die Kosten, wobei das von Kommune zu Kommune unterschiedlich gehandhabt wird.
Homepage Deborah Walter: wegemitdempferd.de

 

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