Was ist das für ein Morgen, an dem ein kleiner Zettel an der Kindergartentür einen mit den Worten empfängt: »In der pinken Gruppe ist ein Fall von Hand-Mund-Fuß-Krankheit aufgetreten«? Für eingefleischte Mitleidensgenossinnen und –genossen sei hinzugefügt: Diese Gottesgeißel läuft gerne auch unter den Klarnamen ‚Hand-Fuß-Mund-Exanthem’ oder ‚Falsche Maul- und Klauenseuche’. Da juckt es einem doch schon vom Hörensagen einmal den Buckel von oben nach unten runter und man eilt – natürlich ohne vorher etwas anzufassen – rückwärts aus dem Kindergarten wieder raus, directamente in den nächsten Drogeriemarkt rein und stellt sich erst einmal unter eine Regenwasser-Dusche Desinfektionsmittel. Mal ehrlich, früher gab es doch so einen Kokolores überhaupt nicht! Oder wie meine Mutter auf Nachfrage zaudernd konstatierte: »Was soll das denn bedeuten? Dass jemand seine Hände und Füße in den Mund gesteckt hat?« Schön wär`s!Das einzig Erfreuliche an dieser Seuche: Sie kommt relativ selten vor. Das merkt man schon daran, dass die Zettel im Kindergarten bei einem akuten Fall jedes Mal wieder neu geschrieben werden. Das ist bei Scharlach ganz anders. Da ist die Krankheit an sich auf den pinken, beigen, ultravioletten und ockerfarbenen (aus Datenschutzgründen wurden die wahren Farben der Gruppen verfremdet; sie sind der Redaktion bekannt) Blättern überhaupt nicht mehr zu entziffern. Dennoch weiß jedermann Bescheid. Nicht umsonst heißt es im Wikipedia-Eintrag so treffend: »Im Gegensatz zu typischen Kinderkrankheiten kann man mehrfach an Scharlach erkranken.« Und das tun die süßen Kleinen in der Tat ausgiebig.Wenn man den wissenschaftlichen Erhebungen der Erzieherinnen trauen darf, sind regelmäßig knapp 50 % aller Kinder im Hort von der heimtückischen Infektionskrankheit befallen. In Fachkreisen spricht man daher von einem Streptokokken-Karussell, dass sich beständig im Kreis dreht. Viele Kindergärten sind dazu übergegangen, kleine Gummibärchen-Packungen zu verteilen, die feindosierte Mengen eines Antibiotikums enthalten. Das hat dazu geführt, dass neben den LKW-Lieferungen mit dem Mittagessen für die Kinder nun auch der Sattelschlepper eines großen Pharmakonzerns einmal die Woche vorfährt. Geholfen hat es bisher nichts, außer, dass die Aktie des Medikamentenlieferantens alleine im letzten Jahr um 780 % zugelegt hat.Das hatte bei uns im Kindergarten wiederum zur Folge, dass sich einige Väter zu einer Broker-Gemeinschaft zusammengeschlossen und die familiäre Altersvorsorge komplett in die entsprechende Pharmafirma investiert haben. Der anschließende Interessenskonflikt – gesunde Kinder versus weniger Profit – beschäftigt mittlerweile einen Stab von Anwälten. Und tatsächlich ist es im Zuge dieses Streits zu einer erheblichen Verbesserung an der Scharlach-Front gekommen. Vermutlich, weil einige Kinder auf strikte Anweisung ihrer Eltern nunmehr weder miteinander spielen noch sich die Hände geben dürfen. Mal schauen, wie sich die Sache aus medizinischer Sicht weiter entwickelt! Wer den Hypochonder in sich noch nicht persönlich kennen gelernt hat, bekommt spätestens dann Besuch von ihm, wenn das eigene Kind beim Mittagessen beiläufig erzählt, der Marvin habe heute beim Frühstück auf seine Hose gekotzt. Dass seine Hose bei einer Schilderung des eigenen Kindes durchaus mehrdeutig sein kann, mussten wir an diesem Tage mit Erschrecken und Ekel feststellen. Bei näherer Betrachtung war unschwer zu erkennen, dass Jamies Jeans über und über mit roten Spritzern und Sprenkeln versehen war. Auf die Nachfrage, was es denn bei Marvin zum Frühstück gegeben habe, antwortete Jamie lächelnd: »Leberwurstbrot mit Kirschen. Puh, hat das gestunken. Schlimmer als bei Opa auf dem Klo!« Damit war das Mittagessen dann auch endgültig gegessen bzw. eben nicht.Das Ganze spielte sich damals genau zwei Tage vor Weihnachten ab und uns war schon klar, was nun geschehen würde. Bereits am nächsten Nachmittag ging es dann auch los. Jamie reiherte beim Baumaufstellen in einem ersten Schwall Omas schönen Teppich voll, schaffte es beim zweiten Erguss aber wenigstens bis in die Küche. Dort zielte er so genau in einen Bastkorb, dass dieser praktischerweise unkompliziert und komplett mit Inhalt in der Aschentonne entsorgt werden konnte.Als nächstes war in der heiligen Nacht dann unser Jüngster an der Reihe. Pünktlich um 2 Uhr morgens erbrach Charlie das feine Weihnachtsmahl auf seinem Kopfkissen und platzierte den Nachstrahl mit einer ausgeklügelten Technik zentimetergenau an die frisch gestrichene weiße Wand. Während ich gerade dabei war, mit einer Wäscheklammer auf der Nase – meine Frau äfft mich noch heute mit kindlicher Begeisterung und einer Hand am Riechorgan nach – die Fleischwurststückchen aus dem Bezug zu pulen, hatte sich Charlies Mageninhalt bereits in einer zweiten Runde entleert. Dieses Mal musste unser Schlafzimmer dranglauben. Dort hatte es sich Charlie im Bett von Sophia auf einer mehrschichtigen Lage aus Handtüchern gemütlich gemacht gehabt, es aber schließlich vorgezogen, sich aufzurichten und lieber direkt in Richtung des Schlafzimmerschranks zu erbrechen. Die letzten festgetretenen Fleischwurststückchen haben wir erst Wochen später aus den Fugen des Holzbodens gekratzt.Und als wir nach einer prall gefüllten Waschmaschine, fünf Eimern Schmutzwasser und zwei frisch bezogenen Betten gerade wieder dabei waren, uns langsam in den Schlaf zu wiegen, hörten wir mit Entsetzen aus Jamies Kinderzimmer ein unzweideutiges Würgegeräusch. Es war klar, wir würden zu spät kommen.Als ich das Licht anmachte, beobachtete ich, wie Jamie nicht nur den bereit gestellten Eimer um die Halslänge einer Giraffe verfehlte, nein, ich musste auch mitansehen, wie er aufrecht in seinem Bett sitzend, den Kopf einmal von links nach rechts bewegte und in einem Schwall den schönen Ikea-Spiele-Teppich auf die Müllkippe kotzte. Da war nichts mehr zu retten! Und dennoch lächelte ich.Das ganze bittere Schauspiel hatte mich an eine Szene aus dem Neunziger-Jahre-Film »Voll normaaal« erinnert. Tom Gerhardt röhrte in dieser Szene bei Uwe Fellensiek zu Hause das Büffet in einem ergiebigen Strahl mit seinem Mageninhalt voll. Anschließend meinte Hilmi Sözer als Mario vorwurfsvoll: »Tommie, ware doch nich notig!« Und genau diese Worte hörte ich mich nun leise vor mich hinsprechen. Nach Silvester hatte die gesamte Familie Hämpel Marvins spritzigen Weihnachtsgruß dann endlich besiegt!
Ben Redelings
Bildnachweis: Jörn Stollmann