Familie ist heute vielfältig und bunt. Tausende Kinder wachsen in Regenbogenfamilien auf, d.h. Familien, in denen sich mindestens ein Elternteil lesbisch, schwul, bi, trans- bzw. intergeschlechtlich ist. Dennoch findet die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kindesalter laut dem Lesben- und Schwulenverband meist nur im Biologieunterricht statt.
Auch Juliette Wedl von der Koordinierungsstelle Gender und Diversity Studies berichtet von unzureichender Thematisierung von Vielfalt in der Grundschule. Die Annahme, dass Kinder sich damit erst in der Pubertät beschäftigen und die Thematik zu früh für die Grundschule sei, lehnt sie ab. „Kinder sind von einer Vielfalt an Lebensweisen umgeben, die gleichberechtigt auch in der Grundschule sichtbar sein und thematisiert werden müssen.“
Das REVIERkind richtet sich mit der Frage der Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Kindesalter in einem Interview an René Mertens vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland.
Herr Mertens, ist es wichtig, Kinder bereits im Kindergarten für Vielfalt zu sensibilisieren? Wenn ja, wieso?
Ja, auf jeden Fall. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ist ein Thema für jede KiTa. Die Vielfalt von Familienformen und Identitäten umgibt Kinder in ihrem täglichen Umfeld schon von klein auf. Da ist beispielsweise die Zwei-Mütter Familie, die mit ihrem Kind auf dem Spielplatz fangen spielt oder der Trans*-Vater, der beim Laternenumzug Gitarre spielt. Aber auch in der KiTa selbst umgibt die Kinder eine Vielfalt von Familienmodellen und Geschlechterrollen. So nehmen sich einige Kinder nicht als „typische“ Jungs oder „typische“ Mädchen war oder sind selbst trans* bzw. intergeschlechtlich. Diese Kinder und auch die Familien sind Teil der KiTa-Gemeinschaft und gehören selbstverständlich dazu.
Damit alle Kinder und Familien sich akzeptiert und wertgeschätzt fühlen, ist es wichtig, dass bereits in der frühkindlichen Pädagogik und im KiTa-Alltag diese Vielfalt auch als Teil der Normalität sichtbar wird. KiTas und Schulen haben die Aufgabe, Kinder auf Vielfalt vorzubereiten. Das ist originärer Bestandteil ihres Bildungsauftrags, damit sie ein positives und akzeptierendes Selbstbild entwickeln und sich später gegen Diskriminierungen behaupten können.
Was empfehlen Sie Kindergärten im Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt?
Macht Vielfalt in eurer Einrichtung sichtbar! Eine Regenbogenflagge bietet sich dafür genauso an, wie die Abbildung von Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Orientierungen. Positioniert euch bei abwertenden Haltungen oder Sprüchen gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI*) und seid solidarisch! Sprecht in eurer Arbeit unaufgeregt über unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten!
In der praktischen Arbeit ist an die Bastelaktionen zum Mütter-Tag genauso zu denken, wie mit Kindern über vielfältige Familienformen zu sprechen. Aber auch die Regenbogenfamilienzentren oder die Fachstellen bieten Materialempfehlungen und auch Fortbildungen zu den Themen Familie, Geschlecht & sexuelle Identität. Die Botschaft bei all diesen Materialien ist immer die gleiche: Kinder und vor allem auch Familien sind vielfältig, und das ist auch gut so.
René Mertens spricht an dieser Stelle zudem Methoden-Koffer an, die in einigen Bundesländern zum Thema Familien- und Geschlechtervielfalt mit kindgerechtem Material angeboten werden.
Was können Eltern und/oder Erziehungsberechtigte tun, um das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kindergarten anzuregen?
Handpraktisch können Eltern den Erzieher*innen und Leitungen beispielsweise Kinderbücher vorschlagen, in denen unterschiedliche Familien vorkommen. Auch kann angeregt werden, dass die KiTa ihre Offenheit mit einer Regenbogenfahne zeigen könnte. Oft geht es auch um das bewusste Hinterfragen von Geschlechterrollen.
Warum nicht mal als Elternteil gemeinsam mit Erziehenden und Kindern ein kleines Theaterstück in der KiTa aufführen, bei dem das Bauernmädchen die Prinzessin aus den Fängen eines Drachen rettet, sie heiraten und glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben. Mit der Sensibilität für Vielfalt steigt meist auch die Sichtbarkeit.
Auch könnten Abläufe, Formulare, Elternbriefe und die Kommunikation der KiTa hinterfragt werden. Wenn von Familien und Elternteilen statt von jeweils Mutter und Vater gesprochen wird, fühlen vielfältige Familien sich eher angesprochen. Wenn Regenbogenfamilien in der KiTa sind, bitte keine Sondersituationen schaffen und diese ungewollt ins Rampenlicht stellen.
Wieso sollte sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Grundschule „unterrichtet“ werden?
Weil Kinder Vielfalt erleben und selbst mitbringen. In jeder Klasse sitzen statistisch ein bis zwei Kinder, die jetzt oder später nicht cisgeschlechtlich bzw. nicht heterosexuell sind. Kinder haben Fragen zu gesellschaftlicher Vielfalt und auch ein Recht auf eine altersgerechte Antwort. Die Norm der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität stellt andere Lebensweisen als anormal dar und beschränkt damit die Identitätsentwicklung und Vorstellungswelt aller Kinder. Dadurch fördert sie die Ausprägung diskriminierender Verhaltensweisen.
Kinder und Jugendliche, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder intergeschlechtlich sind oder auch nur dafür gehalten werden, erfahren Mobbing und Gewalt auf Schulhöfen. Das passiert auch schon an Grundschulen. Wörter wie „schwul“ oder „lesbisch“ werden als Schimpfwörter missbraucht und bleiben von Lehrkräften oftmals unwidersprochen. Dabei kommt der Schule eine besondere Aufgabe zu, LSBTI*-feindlichen Einstellungen zu begegnen und das Wissen über die Vielfalt der Lebensweisen und Identitäten zu vermitteln.
Und in welcher Form?
Wichtig ist, dass die Vielfalt unserer Gesellschaft in Schulmaterialien und Büchern sichtbar wird. Es geht weniger darum, ein eigenes Schulfach „Vielfalt“ zu haben, sondern das Thema fächerübergreifend aufzunehmen. Dabei ist die Mathe-Sachaufgabe, bei der die beiden Väter von Max einkaufen gehen und die Kinder errechnen sollen, wie viel an der Kasse zu zahlen ist, genauso denkbar, wie der Dialog im Englischbuch, in dem Lucy ihrer Freundin erzählt, dass sie sich in Angie verliebt hat.
Lehrkräfte sollten es Kindern ermöglichen, mit dem Pronomen und Namen angesprochen zu werden, mit dem sie sich wohlfühlen. Es sind oft die kleinen Schritte, die einen Unterschied machen und ein respektvolles und vielfältiges Leben in der Schulgemeinschaft fördern. Wichtig ist vor allem, dass Hänseleien und Gewalt gegen junge LSBTI* und Kinder, die dafür gehalten werden, nicht unwidersprochen bleiben. Kinder, Erziehende, Lehrkräfte, die Schulleitung und auch die Eltern könnten ein gemeinsames Selbstverständnis für das Zusammenleben an ihrer Schule entwickeln, was von allen mit einem bunten Handabdruck unterzeichnet wird.
Was können Eltern tun, wenn sie von diskriminierenden Äußerungen oder Handlungen im Kindergarten/in der Grundschule gegen ihr Kind erfahren?
Bei diskriminierenden Äußerungen, egal ob sie homophob, transfeindlich, rassistisch oder sonst wie minderheitenfeindlich motiviert sind, ist der beste Weg, eine klare Position zu beziehen und Haltung zu zeigen. Eltern sollten diskriminierende Äußerungen klar benennen, auch wenn es nicht um das eigene Kind geht. Als nächster Schritt kann gemeinsam mit der Elternvertretung oder der Leitung der Einrichtung das Gespräch gesucht werden.
Nicht selten werden solche Äußerungen unbewusst gemacht. Wichtig ist jedoch, auch bei den Mitarbeitenden dafür Sensibilität zu schaffen. Die Kinder sollten dabei nicht vergessen werden. Sprechen Sie mit ihrem Kind über die Situation. Wie hat sich das Kind dabei gefühlt? Wie kann ein Kind reagieren, wenn es beobachtet oder miterlebt, dass diskriminierende Äußerungen oder Hänseleien unter den Kindern geschehen? Eltern sollten ihre Kinder gegen solche Äußerungen stark machen, solidarisch zu ihnen stehen und sie vor allem ernst nehmen.
*das Interview wurde an einigen Stellen zur besseren Lesbarkeit verkürzt
René Mertens
Bund-Länder-Koordination / Projektreferent im Kompetenznetzwerk „Selbst.verständlich Vielfalt“
Foto: Caro Kadatz
Author: Vanessa Wobb
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